A. Holenstein: Entwicklung heisst Befreiung

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Titel
Entwicklung heisst Befreiung. Erinnerungen an die Pionierzeit der Erklärung von Bern (1968–1985)


Autor(en)
Holenstein, Anne-Marie; Renschler, Regula; Strahm, Rudolf
Erschienen
Zürich 2008: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Nuno Pereira

Seit 1968 setzt sich die unabhängige, von Mitgliedern finanziell getragene entwicklungspolitische Organisation Erklärung von Bern (EvB) für eine Verbesserung der Nord-Süd- Beziehung, für gerechte Handelsbeziehungen und eine nachhaltige Entwicklung ein. Zum 40-jährigen Jubiläum liegt nun eine Überblicksdarstellung zur Geschichte der Organisation in den ersten 20 Jahren ihres Bestehens vor.

Die EvB entstand aus dem Zusammenschluss von Unterzeichneten eines Manifests, das von reformierten Theologen aus Protest gegen die wachsenden Wohlstandsunterschiede zwischen den westlichen Industrieländern und der Dritten Welt erarbeitet und im März 1968 in Bern verabschiedet wurde. Innert weniger Monate unterschrieben über 1000 Personen das Manifest, wobei sie sich verpflichteten, drei Prozent ihres Einkommens für die Entwicklungshilfe einzusetzen. Im Anschluss konstituierte sich die EvB als Verein und baute Sekretariate in Zürich und Lausanne auf.

Die Autoren – alle während vieler Jahre in leitender Funktion in der EvB tätig – prägten das Gesicht der Organisation und legen nun mit diesem Werk einen Zeitzeugenbericht vor. Insofern ist die Publikation – wie der Untertitel «Erinnerungen an die Pionierzeit» schon andeutet – keine systematische historische Abhandlung, sondern der subjektive Blick der Akteure auf ihr solidarisches Engagement in einer der wichtigsten schweizerischen Entwicklungsorganisationen. Die Publikation ist allerdings mehr als nur eine Erinnerungsstudie. Die Autoren stützen sich bei ihrer Darstellung auf Dokumente und Quellen aus ihren Privatarchiven oder dem Schweizerischen Sozialarchiv und leisten somit einen wertvollen Beitrag zur historischen Aufarbeitung. Eine Reihe von Abbildungen wie Flugblätter, Broschüren oder Fotos von Akteuren und Aktionen ergänzen die Ausführungen. Das Buch schliesst mit einer kurzen wissenschaftlichen Analyse des Historikers Konrad Kuhn sowie einem Beitrag zur heutigen Situation der EvB hinsichtlich ihrer Professionalisierung.

Die jeweils in der ersten Person geschriebenen Berichte der drei Zeitzeugen weisen eine weitgehend chronologische Reihenfolge auf und verfolgen die Geschichte der EvB von ihren Anfängen bis in die Mitte der 1980er-Jahre. Die Anfangszeit der EvB fiel mit dem bewegten Jahrzehnt nach 1968 zusammen. Die von der Organisation behandelten Themen illustrieren den Zeitgeist dieser Jahre: Anprangerung der Ungleichheiten in den Nord-Süd-Beziehungen, die Verantwortung der «entwickelten» Länder für die Aufrechterhaltung der «Unterentwicklung» eines grossen Teils der Weltbevölkerung, Kritik am Ethnozentrismus und Rassismus, aber auch Kritik an der Konsumgesellschaft und der zunehmenden «produktivistisch» ausgerichteten Wirtschaftsentwicklung. Im Zentrum des Entwicklungskonzepts der EvB standen die Prinzipien der Eigenständigkeit und Selbstbestimmung. Im Gegensatz zu den meisten anderen soziopolitischen Gruppierungen der 68er-Bewegung, die eher informelle und nicht permanente Strukturen aufwiesen, durchlief die EvB im Laufe der 1970er-Jahre einen Prozess der Institutionalisierung und Professionalisierung. Ebenfalls distanzierte sie sich vom marxistischen Vokabular dieser Zeit und wandte weniger konfliktgeladene Aktionsstrategien an. Nichtsdestotrotz zeugten die Aufsehen erregenden Kampagnen der EvB von einer grossen Kreativität und hatten hohen Symbolwert. Konsumentenaktionen wie die Kaffee- Aktion Ujamaa (der Import und Verkauf von verarbeitetem Kaffee aus Tansania) oder die Aktion «Jute statt Plastic» (der Verkauf von Jutesäcken, die von Frauen aus Bangladesch hergestellt wurden) sollten die Schweizer Bevölkerung auf gerechten Handel und ökologische Anliegen aufmerksam machen und trugen zur Institutionalisierung des Fair-Trade-Handels bei.

Des Weiteren beschreiben die Autoren die EvB als Teil eines vielfältigen, sowohl national als auch international agierenden Netzwerks, das sich zu dieser Zeit im Bereich der Entwicklungsarbeit bildete. Der Pragmatismus der EvB erlaubte es, mit diversen Akteuren wie Kirchen, Hilfswerken oder politischen Parteien zusammenzuarbeiten. Dies erklärt nicht nur die lange Lebensdauer der Organisation, sondern auch ihre grosse Wirkung in der schweizerischen Entwicklungspolitik.

Geschickt wird die Geschichte der EvB mit dem Lebenslauf der Autoren verknüpft, die von ihrer Politisierung, ihrem politischen und solidarischen Engagement und der zugrunde liegenden Motivationen und Inspirationsquellen erzählen. Kritisch gehen sie auf die konkrete Arbeit in der EvB ein und blenden dabei Schwierigkeiten und Desillusionierungen bezüglich ihres Engagements nicht aus. Ein weiterer interessanter Aspekt dieses Werks ist der Einbezug einer Geschlechterperspektive. Die Rolle von Frauen in der Entwicklungsarbeit wurde bisher kaum zur Kenntnis genommen. Finden sich unter den Erstunterzeichnenden des Manifests nur vier Frauen, sind sie beim Aufbau der Organisation bereits stark vertreten und übernehmen vermehrt Verantwortung. Dabei mussten sie jedoch feststellen, dass sie als Frau in ihrer Handlungsfreiheit stark eingeschränkt waren. Erstaunt war Anne-Marie Holenstein, als sich herausstellte, dass sie für Eröffnung eines Bankkontos zugunsten der EvB die Unterschrift ihres Mannes benötigte. Konfrontiert sah sie sich auch mit der Schwierigkeit, ihr Engagement und die Kindererziehung aufeinander abzustimmen. Gleichwohl stellten Frauen als Konsumentinnen bei der Themensetzung in der Entwicklungspolitik einen wichtigen Faktor dar, wie die Aktion der «Bananenfrauen» aus Frauenfeld exemplarisch zeigt. Anfang der 1970er-Jahre legten sie den Grundstein für den fairen Handel in der Schweiz, als sie von Lebensmittelläden einen Solidaritätsaufschlag von 15 Rappen auf Bananen zugunsten der Produzenten in den Entwicklungsländern forderten. Es ist auch vorwiegend auf die Initiative von Frauen zurückzuführen, dass Ernährungs- und Gesundheitsfragen oder die Erziehung zur Solidarität auf die Agenda gesetzt wurden.

Dadurch dass die Publikation die Geschichte der EvB nachzeichnet, wirft sie einen kritischen Blick auf zwei Jahrzehnte Schweizer Entwicklungspolitik, deren Themenfelder von damals bis heute eine grosse Aktualität aufweisen. Gleichzeitig dokumentiert das Buch das soziale und politische Klima der Schweiz zwischen 1968 und 1985 aus der persönlichen Perspektive der Autoren. Die gelungene Verknüpfung einer Organisationsgeschichte mit einem biographischen Ansatz vermittelt so ein interessantes Stück Zeitgeschichte.

Zitierweise:
Nuno Pereira; Renate Schär: Rezension zu: Holenstein, Anne-Marie; Renschler, Regula; Strahm, Rudolf: Entwicklung heisst Befreiung. Erinnerungen an die Pionierzeit der Erklärung von Bern (1968–1985), Zürich, Chronos, 2008. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 72, Nr. 2, Bern 2010, S. 172-174.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 72, Nr. 2, Bern 2010, S. 172-174.

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